Kinderheim Nr. 6

Hans SCHAFRANEK: Kinderheim Nr. 6. Österreichische und deutsche Kinder im sowjetischen Exil (unter Mitarbeit von Natalja MUSSIJENKO). Döcker Verlag, Wien 1998, 251 Seiten (Hardcover). ISBN 3-85115-265-4.

Im August 1934 emigrierten etwa 120 Kinder von politisch Verfolgten aus Österreich und Deutschland in die Sowjetunion. Sie kamen in das Moskauer Kinderheim Nr. 6, wo sie zu mustergültigen „Sowjetmenschen“ erzogen werden sollten. Doch die UdSSR brach ihr Versprechen auf ein besseres Leben. Einige der Kinder kamen in den Lagern und Gefängnissen der stalinistischen Sowjetunion um. Viele fristeten nach Kriegsbeginn ein entbehrungsreiches Dasein während der Evakuierungsperiode und in der „Arbeitsarmee“. Genaue Quellenarbeit, die Verwendung bislang unbearbeiteter Dokumente und die Analyse von Interviews mit ehemaligen Heimkindern erhellen das zynische Verhältnis von sozialistischem Anspruch und sowjetischem Alltag in den Jahren der stalinistischen Verfolgung. 

MEDIENECHO

„Das jüngste Buch des Stalinismus-Forschers und Spezialisten für die Probleme der österreichischen Emigration in der Sowjetunion, des Wiener Historikers Hans Schafranek, entspricht in seiner Wirkung auf den Leser einem schweren Schlag in die Magengrube. Diesmal geht es bei ihm nicht nur – wenn diese verharmlosende Einschränkung überhaupt gestattet ist – um desillusionierte Kommunisten, um ausgelieferte Flüchtlinge und andere Opfer des stalinistischen Terrors; hier geht es um das Schicksal der (…) Kinder von kommunistischen und sozialistischen Eltern, die 1934 in einer solidarischen Hilfsaktion ins Vaterland aller Werktätigen verbracht worden waren. Für viele, die über einen Zwischenaufenthalt in der Tschechoslowakei schließlich im Moskauer Kinderheim No. 6 eintrafen, entpuppte sich die Rettung vor Not und Verfolgung in der Heimat als Flucht in die Höhle des Löwen.“
Katharina Rutschky, Gefangen im Vaterland aller Werktätigen. Wie Moskau mit deutschen und österreichischen Emigrantenkindern umging, in: Die WELT (Berlin), 30.1.1999

„Die (…) einfühlsam erzählten und mit zeitgenössischen Fotos illustrierten Biographien der Erzieher und Kinder ermöglichen dem Leser Einblicke in unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und Alltags in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Ausgesprochen spannend sind die überlieferten Berichte im Abschnitt ‚Politische Erziehung – Disziplin – Kontrolle’ (…).
Wladislaw Hedeler, Utopie kreativ (Berlin), Februar 1999

„Der Verfasser hat nicht nur mit Hilfe einer russischen Archivarin zahlreiche bislang unbekannte Moskauer Dokumente ausgewertet, sondern auch die Spuren Überlebender nach 1945 verfolgt und noch einige von ihnen ausfindig gemacht und interviewt – so Wolfgang Leonhard, der gleichfalls Insasse dieses Heims gewesen war. Er schildert eindrucksvoll die Sozialisation von Kindern in einer totalitär beherrschten Gesellschaft und macht die Schwierigkeiten deutlich, eine deutliche Grenze zwischen Tätern und Opfern eines repressiven Apparats zu ziehen.“
Patrik von zur Mühlen, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47 (1999)

„Das Buch ist insgesamt sehr spannend geschrieben und gut recherchiert. Dem Autor gelingt die Synthese unterschiedlicher Quellen – sowjetisches Aktenmaterial und persönliche Erinnerungen – sehr gut.“
Frank Schauff, osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Herbst 1999

„Der österreichische Historiker und Stalinismusforscher Hans Schafranek hat sich (…) auch um Aufklärung der Schicksale dieser Schutzbund-Heimkinder bemüht. Er präsentiert hier das Ergebnis der Nachforschungen in Archiven des NKWD, der Moskauer Schulverwaltung, der gesellschaftlichen Organisationen, der Moskauer Parteiorganisation und der Stadt Moskau sowie die Ausbeute von Interviews mit Überlebenden des Kinderheims und anderen Zeitzeugen.“
Ilse Spittmann, DEUTSCHLAND ARCHIV. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, Nr. 6, November/Dezember 1999

„Anhand einzelner Biographien wird deutlich, wie verbrecherisch das System war, in das die ‚Rote Hilfe’ Kinder und Familien gelockt hat. So wird der Weg des 1922 geborenen Paul Münichreiter nachgezeichnet, dessen schwerverwundeter Vater Karl 1934 vom Dollfuss-Regime standrechtlich hingerichtet worden war. Paul lebte 1934 bis 1938 im Kinderheim No. 6 in Moskau und meldete sich bei Kriegsausbruch zur Roten Armee, um gegen den Faschismus zu kämpfen, wie er an den KPÖ-Chef Johann Koplenig schrieb. Doch wurde er nicht an die Front, sondern zur Zwangsarbeit in einem Kohlebergwerk mobilisiert – und Koplenig (der noch bis 1965 Parteivorsitzender war) rührte keinen Finger, ihm zu helfen. Schließlich wurde der junge Münichreiter unter nie ganz geklärten Umständen von einem Milizionär erschossen (…). Lesenswert ist auch, wie sich die Stalinisten ‚faschistische Gegner’ erfanden:  Viele der Emigrantenkinder wurden beschuldigt, eine Hitler-Jugend (!) gegründet zu haben (…).“
Conrad Seidl, Der Standard, 3.11.1998

„Im Zuge eines Projektes, gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, konnte der Autor die Geschichte dieser Emi­grantInnen der zweiten Generation schreiben, die im Moskauer Kinderheim Nr. 6 ihre ersten Jahre in Sowjetrusslandverbrachten. (…) Der stalinistische  Terror- oder Vernichtungsfeldzug, wie ihn die neueste Stalinismusforschung bezeichnet – bedeutete eine grobe Zäsur.  60 LehrerInnen der Karl-Liebknecht-Schule, einige ErzieherInnen des Kinderheimes und Zöglinge wurden verhaftet, verurteilt und hingerichtet oder zu jahrelanger Zwangsarbeit verdammt. Verblüffend und schrecklich ist die Maschinerie dieser Verurteilungen, die Hans Schafranek darlegt. Die Volksfeinde wurden nach Kategorien im Voraus bestimmt: etwa Angehörige der Hitlerjugend zu sein (!), Spionage zu betreiben etc. Die Verdächtigen wurden zunächst verhaftet. Trotz der absoluten Willkür der Anschuldigungen wurde aber eine mehr oder weniger aufwendige bürokratische Prozedur immer beibehalten, Verhöre geführt, Protokolle angefertigt, weitere Verdächtige denunziert, Urteile von Richtern gefällt und so weiter. Die Massenoperationen des Geheimdienstes NKWD führten zu fiktiven Sammelanklagen wie ebenjenem Komplex ‚Hitlerjugend’, denen sozusagen in einer Art Planer­füllung genügend Schuldige zugeteilt werden mussten. Tatsächlich gab es Vorgaben für die einzelnen Abteilungen, und diese arbeiteten solange und verhafteten in Verhören belastete weitere Personen, bis der ‚Bedarf’ an dieser Art Volksfeinden gedeckt war. Die letzten Belasteten im März 1938 entgingen so, teilweise ohne es zu ahnen, Tod oder Verbannung, sie wurden nicht mehr verhaftet. Besonders gut sichtbar wird die innere Logik dieses Terrors daran, dasstatsächlich schwache Punkte in ihren Biographien, die die Inhaftierten angreifbar gemacht hätten (Verstöße am Arbeitsplatz, abgefan­gene Briefe, regimekritische Äußerungen) nicht interessierten. Sie wurden, auch wenn sie den Vernehmenden bekannt waren, nicht dazu benützt, die Personen zu verurteilen oder in die Enge zu treiben. Vielmehr wurde ver­sucht, möglichst rasch zu den vorher festgelegten Aussagen zu kommen und möglichst viele neue verdächtige Namen genannt zu bekommen. Die Absur­dität und Ausweglosigkeit der Lage war wohl kaum jemand der Verurteilten bewusst. Verbannung, Zwangsarbeit, Hinrichtung, Hunger … die dargestellten Ein­zel- und Familienschicksale in den Kriegs- und Nachkriegsjahren sind an Tragik und Irrsinn kaum zu überbieten. Auch die lavierende Haltung der österreichischen Behörden ist bemerkenswert.“
Alice Thinschmidt, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (ÖZV) 102, 1999, S. 230–232

„Anhand von bislang unbearbeiteten Dokumenten aus ehemals sowjetischen Archiven und Interviews mit ehemaligen Schutzbund-Kindern zeichnet Hans Schafranek das Schicksal dieser Kinder nach, die unmittelbar den Zwiespalt von ‚sozialistischem’ Anspruch und sowjetischem Alltag sowie die Perversion dieses Anspruches durch die stalinistische Diktatur an sich erfahren mussten. Mit dieser Arbeit gelingt es dem Autor und seiner Mitarbeiterin, wieder einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des österreichischen Exils in der Sowjetunion zu leisten.“
Brigitte Bailer-Galanda, Informationen der Gesellschaft für politische Aufklärung, Nr. 60, März 1999; auch in:  DÖW-Mitteilungen, Folge 142, Juli 1999

„In den dreißiger Jahren wurden etwa 120 Kinder von politisch verfolgten Eltern außer Landes geschmuggelt und in die Sowjetunion verschickt, um ihnen ein ‚besseres Leben’ zu ermöglichen. Anfangs genossen sie einige Privilegien, mit dem Einsetzen des stalinistischen Terrors fielen diesem viele zum Opfer.“
Die Presse (Spectrum), 9./10.1.1999

„Schafranek hat sich mit jenem Band wieder als jener Experte zum Themenkomplex Stalinismus / Emigration / Schauprozesse / Opposition in der sowjetischen Hemisphäre der 30-er, 40-er und 50-erJahre in der ihm eigenen Art präsentiert, die ihn seit Jahren auszeichnet.“
Rudolf Holzer, Zwischenwelt Nr.1/2000, April 2000

„Das große Verdienst des Historikers Hans Schafranek und seiner russischen Mitarbeiterin Natalja Mussijenko ist es, diese 120 Schicksale (darunter auch einige deutsche Kinder) der Anonymität entrissen zu haben. Auf erschütternde und berührende Weise werden persönliche Lebensläufe anschaulich gemacht, deren Tragik oft mehrere Generationen umfasst.“
Heimo Gruber, Der sozialdemokratische Kämpfer, 1999; gekürzt auch in: Neue Wiener Bücherbriefe, 4/99

„Einigen Kindern gelang mit Bemühung der Eltern noch rechtzeitig über die österreichische Botschaft die legale Rückreise, andere mussten, sofern sie überhaupt überlebten, nach langen Jahren in Arbeitslagern und Verbannung mitunter bis Ende der fünfziger Jahre auf eine Rückkehr warten (…). Gründliche Archivarbeit, Interviews mit Überlebenden und viele Fotos ergeben ein deutliches Bild von Menschen, deren Familien ihr Leben in den Dienst der Emanzipation der Arbeiter/innen stellten. Das vorgeblich selbe Ziel wurde vom mörderischen stalinistischen System zur hohlen Phrase pervertiert.“
Heimo Gruber, mitbestimmung. zeitschrift für demokratisierung der arbeitswelt, Heft 4/1999

„Was ihnen während der Jahre der stalinistischen ‚Säuberungen’ und in den Wirren der Folgen des deutschen Überfalls auf Sowjetrussland widerfahren ist, hat Schafranek an Hand von Akten und Zeugenaussagen Überlebender zu einem Bericht verarbeitet, der wissenschaftliches Niveau mit völlig unkonstruierter Dramatik verbindet.“
Hugo Pepper, Bücherschau, 142, 1/1999 (Jänner bis März 1999)

RADIOBEITRÄGE

Ö1, „Journal Panorama“, 15.2.1999, 18.25 Uhr

DeutschlandRadio, DEUTSCHLANDFUNK,  Politische Literatur, 11.1.1999, 19.15 Uhr